Über die Jahreswende 2011 / 2012 flogen meine Kollegin und alphabangla-Mitstreiterin Uschi Cooke und ich nach Bangladesh. Wir wollten nicht nur „unser“ Dorf Sayedpur und unsere Schule besuchen, sondern auch die Slumschulen von „German Doctors e.V.“ besichtigen, um zu entscheiden, ob alphabangla sich dort langfristig engagieren kann. Der Leiter der medizinischen und schulischen Projekte der „German Doctors“ in Dhaka, Babul (Aminul Hoque), holt uns persönlich am Flughafen ab und nachdem wir uns gut 1 1/2 Stunden lang durch den Höllenverkehr der Hauptstadt geschlängelt haben, erreichen wir das Haus, das die Hilfsorganisation im Stadtteil Manda gemietet hat. Dort findet gerade eine Geburtstagsfeier statt, wo wir aufs Köstlichste bewirtet werden und gleich die Lehrer der Schule sowie die zwei deutschen Ärztinnen kennen lernen, die zu der Zeit im Einsatz sind. Danach bekommen wir Zimmer in der neuen Gästewohnung im 6. Stock des Hauses und nach einem Blick von der Dachterrasse über die Megacity Dhaka fallen wir erst mal in unsere Betten.
Früh am nächsten Morgen fahren wir mit Babul zum Slum Gandaria, direkt neben der Bahnlinie. Die Menschen wohnen illegal dort, wie viele es sind, weiß keiner. Die Schule ist ein kleines, dunkles, modriges Haus mit drei Räumen, in denen täglich 500 Kinder in mehreren Schichten unterrichtet werden. Alle warten schon gespannt, nicht nur auf uns, sondern vor allem auf ihre Zeugnisse, die immer am Jahresende ausgegeben werden. Die drei besten Schüler jeder Klasse bekommen Preise – Bücher, Stifte und Ähnliches – und wir helfen bei der Verteilung, werden aufgefordert, eine Rede zu halten und alle wollten, dass wir uns zu ihnen setzen.
Was uns auch in den folgenden Tagen immer wieder erstaunt : In den Slums gibt es nur wenige Wasserstellen, und trotzdem kommen die Kinder gewaschen und gekämmt und mit blütenweißen Hemden zur Schule – wie geht das ? Die Schuluniform erscheint uns zunächst unnötig, wie ein Relikt aus britischen Kolonialzeiten. Aber hier bedeutet eine Schuluniform zu tragen vor allem: Ich lerne lesen und schreiben – und das ist in den Slums längst nicht selbstverständlich. Weitaus mehr Kinder würden gerne zur Schule gehen, aber es gibt nicht genug Platz für alle – ein Problem, das Babul ganz besonders am Herzen liegt.
Als wir zurück nach Manda kommen, sind auch dort die Schulkinder eingetroffen und empfangen uns mit Blumen. 800 Kinder teilen sich hier die kleinen Klassenzimmer, wiederum in drei Schichten, aber nicht alle sind da, denn offiziell sind noch Winter-ferien, aber trotzdem herrscht hier von morgens bis abends ein unglaubliches Gewusel. Wie an unserer Schule im Dorf lernen die Kinder auch hier Bengali und Englisch ab der ersten Klasse. Und die Augen strahlen, wenn sie uns zeigen, dass sie schreiben können- auch unser Alphabet. Bei der Zeugnisausgabe in der Eingangshalle des Ärztehauses ist kaum mehr ein Zentimeter frei. Aber alle wollen, dass die Ärztinnen und wir dabei sind und die Preise übergeben.
Einige Mädchen geben eine Tanzvorführung – Raina, eine der Lehrerinnen hat die Kostüme genäht und den Tanz einstudiert und die Tänzerinnen nehmen den Beifall stolz entgegen. Von einem der Mädchen erfahren wir, dass ihr Vater will, dass sie die Schule verlässt und in einer Textilfabrik arbeitet. Sie habe jetzt genug gelernt und solle die Familie finanziell mit unterstützen. Sie ist 14 Jahre alt. Raina und Babul wollen den Vater umstimmen, denn das Mädchen ist eine der Klassenbesten und könnte sogar aufs College gehen. Das ist kein Einzelfall in einem Stadtteil, in dem viele Väter Rickshaw-Fahrer, Straßenverkäufer oder Tagelöhner sind. Auch wenn Bildung einen hohen Stellenwert genießt, sind es doch nach wie vor zuerst die Mädchen, die die Schule verlassen sollen, um mitzuverdienen.
Am Abend führt Rainas Mann uns die Manda Road entlang. Hier herrscht Tag und Nacht Hochbetrieb und das Leben spielt sich auf der Straße ab. Jedes Haus hat im Erdgeschoss ein kleines Lädchen – Friseur, Schreibwaren, Stoffe – und vor jedem Geschäft sitzen weitere Händler, die Tee, Gebäck oder Nüsse anbieten. Dazwischen bewegen sich Rickshaws, Ziegen und dürre Hunde. Überall wird gesnackt, geplaudert – und natürlich nach uns geschaut. (Zwei Tage später verursachen wir hier einen Menschenauflauf, als wir am Abend alleine unterwegs sind, um Fladenbrot fürs Frühstück zu kaufen. Alle, aber wirklich alle, wollen sehen, wo die europäischen Frauen ganz ohne Begleitung hingehen.)
Am nächsten Tag führt uns Babul bis in die hintersten Ecken des Slums, der direkt beim Haus der German Doctors beginnt, auch über große, stinkende Müllberge, die man immer wieder zwischen den Hütten findet. Kaum vorstellbar, dass hier Menschen leben, aber wir sind im dichtest besiedelten Teil von Manda im am dichtest besiedelten Land der Welt. Hier sind die Gassen so eng, dass kein Müllauto durchkommt. In den Gässchen wird auch noch gekocht, denn dafür ist kein Platz in den Hütten, in denen bis zu 6 Personen leben. Eine alte Pumpe fungiert für ca. 100 Personen als Dusch-,Wasch-und Trinkgelegenheit, gleich nebenan ein paar Bambusstangen mit Reissäcken davor – die Toilette des Slums.
Unser Ziel ist die neueste und kleinste Slumschule der German Doctors. Sie besteht bislang nur aus Palmblättern, Bambus und Wellblech, aber mehr als 50 Kinder sitzen hier auf engstem Raum. Hier wird für uns besonders deutlich, mit wie viel Begeisterung die Kinder selbst in diese armselige Hütte kommen, um lesen und schreiben zu lernen. Als Babul uns als Lehrerinnen aus Deutschland vorstellt und die Kinder fragt, ob von ihnen später auch mal jemand Lehrer werden will, schnellen fast alle Finger in die Höhe.
In den Slumschulen der „German Doctors“ bekommen die Schüler auch einmal am Tag etwas zu essen, meist Reis, Linsenbrei und Gemüse, hier sind es Bananen und mit Protein angereicherte Kekse. 15 Cents darf das pro Kind kosten und es muss nahrhaft sein. Oft ist es die erste oder gar einzige Mahlzeit des Tages und doch erleben wir, dass viele Kinder das Essen mitnehmen, um es mit ihrer Familie zu teilen.
Die vierte Schule, die wir besuchen, liegt im Slum Korail – unmittelbar neben dem Nobelviertel Gulshan. Wir fahren am Nachmittag mit den Ärztinnen, die einmal pro Woche dort die Kranken versorgen- nachdem sie vormittags schon Hunderte von Patienten in Manda betreut haben. Die meisten kommen mit Durchfallerkrankungen, Hautkrankheiten oder Verbrennungen. Alles, was die Doctors für ihre ambulanten Einsätze brauchen, müssen sie von Manda aus mitnehmen. Und da man den Slum nur zu Wasser erreichen kann, verladen wir große Kisten mit medizinischem Material auf ein kleines Holzboot. Dann werden wir über den See gerudert, auf dem eine Unmenge Abfall schwimmt. Auch hier warten schon viele Patienten. Das, was die beiden Ärztinnen hier tagtäglich leisten, verdient wirklich ganz große Hochachtung.
Rund 100.000 Menschen leben in Korail. Ihnen geht es etwas besser als in den anderen Slums, denn es gibt Gas- und Wasserleitungen und sogar einige Lädchen. Weil die Ärztinnen ihre Praxis in der Schule abhalten müssen, warten die Kinder draußen auf die Zeugnisverleihung, in einem winzigen Hof, umgeben von Slumhütten. Wir bringen ihnen ein englisches Lied bei; sie singen lauthals mit und ahmen die dazu gehörigen Gesten mit Begeisterung nach. Nach der Zeugnisverleihung spielen wir noch mit den Kindern und natürlich begleiten sie uns überall hin. Gerne würden wir länger bleiben und wirklich mal Unterricht in den Slumschulen machen. Beim nächsten Mal ganz bestimmt !
Gut 120.000 Euro im Jahr braucht „German Doctors e.V.“ allein für den Schulbetrieb – für Lehrergehälter, Bücher, den Erhalt der Gebäude und das Essen für die Kinder. Das ist eine ordentliche Summe, die erst einmal erwirtschaftet sein will. Aber wenn man es auf 2.000 Schüler umrechnet, kostet es gerade einmal 60 Euro im Jahr, damit ein Kind in die Schule gehen kann und auch etwas zu essen hat. In unserer Zeit in den Slumschulen haben wir in Babul einen guten Freund gefunden, der sich mit seiner ganzen Energie für die Bildung dieser Kinder einsetzt und dem wir gerne die mitgebrachten 1.500 Euro überlassen und wir sind auch überzeugt davon, dass es sinnvoll ist, diese Schulen nachhaltig und kontinuierlich zu unterstützen. Und wir hoffen, dass wir in den kommenden Jahren weitaus mehr an Hilfe leisten können.